this post was submitted on 30 Jun 2023
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Nach meiner Einschätzung liegst du da einem Trugschluss auf: Das liegt nicht daran, dass Arbeit grundsätzlich einen geringeren Stellenwert hätte - auch wenn da durchaus was dran sein mag. Es lohnt sich halt einfach nicht Motivationsschreiben zu verfassen. Einerseits, wegen der Fülle an offenen Stellen, andererseits weil man von den Personalern eh anhand des Lebenslaufs ausgewählt wird. Für die Personaler ist ein Anschreiben dann erst im Nachgang wichtig. Bei Unternehmen, die so viel Andrang haben, dass sie noch ein Anschreiben verlagen können, kommen aber 99,9% der Bewerber nicht rein. Also warum sollten Leute, die sich selbst nicht zu den Top 0,1% zählen ihre Zeit mit Motivationsschreiben verschwenden?
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass die Bedeutung von Berufen, für die es eine klare Ausbildung gibt, stark abgenommen hat. Die Vielfalt der Stellen ist heute einfach größer denn je. Für einen Maurer mag es Sinn machen, erklären zu müssen, warum er bei Maurerbetrieb Rudolf und nicht bei Maurerbetrieb Heinz arbeiten möchte. Aber, wenn du heute an der einen Stelle nicht als Produktmanager genommen wirst, arbeitest du halt vielleicht an anderer Stelle als Projektmanager.
Beim Thema Mitarbeiterbranding kommt mir auch die Galle hoch. Das ist doch ein sehr junges Phänomen, das an die Stelle getreten ist, wo früher noch professionelle Distanz das "Miteinander" im Unternehmen bestimmt hat. Heute hast du dich gefälligst mit dem Unternehmen zu identifizieren und es bestenfalls noch als deine Erstfamilie betrachten. Das ist doch einfach nur übergriffig. Das ganze Thema ist auch eine ungeheure Ressourcenverschwendung, mit der sich HR-Abteilungen ihre Daseinsberechtigung schaffen wollen. Das führt dazu, dass man sich auf jeder Karriere-Seite erst einmal durch seitenlanges Blabla wühlen muss, bevor man den irgendwo versteckten "Offene Stellen" Link findet. Wenn überhaupt, ist die Mission eines Unternehmens erst dann wichtig, wenn ich ein Angebot von mehreren Unternehmen vorliegen habe und es mir dann leisten kann, über die Mission nachzudenken. Erst kommt das Fressen, dann die Moral.
Das ist auch mein Eindruck, das derzeitige System der Mitarbeiterbeschaffung und -bewerbung ist von Grund auf und nachhaltig KAPUTT, und die HR-Abteilungen sind schuld daran.
Wie oft ich in den letzten Jahren bei mir und bei Freunden schon das Erlebnis hatte, dass einzelne Abteilungen verzweifelt auf der Suche nach guten Leuten sind, während gute Bewerber es nicht durch die schikanösen und willkürlichen Bewerbungsprozesse schaffen! Dort kommen hingegen nur die durch, die a) von der Ausbildung GENAU aufs Anforderungsprofil passen, selbst wenn sie persönlich oder intellektuell eher keine guten Kandidaten sind, oder b) generell die Dummen und Verzweifelten, denen die ganze Bewerbungsschikane nicht überhaupt zu blöd ist.
In mehreren (!) Fällen kam es dann zur Einstellung, einfach weil jemand jemanden kennt der privat jemanden kennt, dann wird man einander vorgestellt, hat ein kurzes Gespräch, und im Anschluss (!) wird das Prozedere über die HR-Abteilung pro forma durchlaufen, weil das so sein muss, dabei ist die Entscheidung schon beim ersten direkten Kontakt gefallen.
Das muss man sich Mal vor Augen halten: Die eigenen Abteilungen (!) verlassen sich nicht mehr auf das, was ihnen die HR-Abteilungen so raussuchen, weil da nur Müll kommt. Auf der anderen Seite als Bewerber ist der Effekt natürlich noch viel stärker. Gerade als jemand mit nicht komplett geradlinigem Lebenslauf versuche ich es sicher immer (!) über persönliche Kontakte, anstatt gegen die unpersönliche Formularwand auf der hundertsten Firmenseite anzurennen, und auch nach Monaten noch keinen Schritt weiter zu einem Gespräch zu sein.
Es stellt sich die Frage: Wenn es die eine Seite nicht brauchen kann, und auch der anderen nichts nützt... WOZU DANN EIGENTLICH DER GANZE SCHWACHSINN?!
Zum Thema Lebenslauf: Da bin ich ganz bei dir. Wenn 100 Bewerbungen gesichtet werden müssen (selbst 5 in einer Woche sind bei einem vollen Kalender schon schwer, wenn man es "richtig" machen möchte), ist der CV das erste, worüber die Bewerbenden in die engere Auswahl genommen werden. ABER: In der engeren Auswahl sticht jene Bewerbung hervor, die sich etwas mehr Mühe gemacht hat als jemand der "nur" den CopyPaste-Weg gegangen ist. Übrigens: Wer im Lebenslauf in 1-3 Zeilen klar formuliert, welchen need er bei uns befriedigen kann, kommt in jedem Fall auf den Stapel "engere Auswahl". Spätestens dann musste man sich zumindest etwas mit dem Betrieb auseinandersetzen.
Bsp. Mauerer: Gerade dann, wenn man sich auf Stellen bewirbt, die NICHT direkt zum Lebenslauf passen, muss doch irgendwo eine Motivation zum Ausdruck gebracht werden, warum man sich ausgerechnet als Projektmanager bewirbt, wenn man zuvor Produktmanager war.
Branding: Ja, da bin ich auch bei dir. "Branding" kommt aus der Viehzucht und ist eigentlich sehr schmerzhaft. Die Einstellung oder das Vermitteln einer Identität eines Unternehmens kann man nicht auf dem Reisbrett skizzieren und dann jedem aufdrücken. Das muss über viele verschiedene, unterschwellige, einfache, repetitive Maßnahmen oder Vorbilder geschehen. Einfach zu sagen, "wir sind jetzt user centric", reicht halt nicht.