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Hier hat der IS das Sagen: Im Gefangenenlager Al-Hol in Nordostsyrien werden Tausende Frauen und Kinder festgehalten. In Syrien sitzen Frauen und Kinder deutscher IS-Kämpfer in Gefangenenlagern fest. Wächst dort die nächste Generation des Kalifats heran?

Die erste Frau, die an diesem Morgen in den Besucherraum des Gefangenenlagers Al-Roj im Nordosten Syriens geführt wird, will nicht reden. „Ich habe den Kurden gesagt, dass ich keine Interviews mehr gebe. Das bringt eh nichts“, sagt sie. „Außerdem bin ich keine Deutsche, sondern Deutschtürkin.“ Die Frau ist von Kopf bis Fuß verschleiert. Durch einen Sehschlitz sind gerade so ihre Augen zu sehen. Selbst ihre Hände stecken in grauen Handschuhen. Sie vermeidet es, der Besucherin die Hand zu geben. Vielleicht betrachtet sie sie als Ungläubige.

Viele der Gefangenen im Lager Al-Roj hängen noch immer der Ideologie des „Islamischen Staates“ (IS) an. Sie haben im Reich der Terrormiliz gelebt, bevor es 2019 unterging. In Al-Roj sind etwa 2270 ausländische Frauen und Kinder früherer IS-Kämpfer interniert. Nach Angaben der Direktorin Hokmia Ibrahim sind 13 von ihnen Deutsche. Im nahe gelegenen Al-Hol-Camp werden 6300 ausländische Frauen und Kinder festgehalten, unter ihnen auch einige Deutsche.

Zekija Kacar aus Stuttgart ist die zweite Frau, die an diesem Morgen von einer kurdischen Soldatin in den Besuchercontainer geführt wird. Sie tritt ganz anders auf. Kacar trägt keinen Gesichtsschleier. Ihr Kopftuch ist weinrot. Ihre Augen sind geschminkt, Lippe und Nase gepierct. Auf dem Kopf trägt sie eine modische Sonnenbrille. Einen jungen Mann im Raum, den sie von früher kennt, begrüßt sie kumpelhaft per Handschlag.

Über ihre kurdischen Bewacherinnen äußert sie sich wohlwollend. Außerdem hat sie zwei ihrer Kinder mitgebracht. „Meine Kinder verblöden hier“, sagt sie. „Ich finde es wirklich unfair, dass Deutschland nichts macht, um uns zurückzuholen.“ Sie habe mitbekommen, dass viele radikale Deutsche zurückgeholt worden seien. „Warum holen die nicht mal normale Leute?“

Nach dem Zusammenbruch des Terrorstaates hat die Bundesregierung zwischen 2019 und 2022 nach Angaben des Vereins Grüner Vogel 27 deutsche Frauen und 80 Kinder aus den Lagern im Nordosten Syriens geholt. Der Verein berät seit Jahren Eltern von IS-Angehörigen. Mit Unterstützung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat er auch die zurückgeholten IS-Frauen und deren Kinder bei der Reintegration betreut. Zekija Kacar war nicht dabei, weil sie keine deutsche Staatsbürgerin ist. Ein „politisches Faustpfand“

Sie kam als Dreijährige aus Serbien nach Stuttgart. Aber zwei ihrer fünf Töchter, geboren in Böblingen und Bad Cannstatt, sind Deutsche. Kacar hat sie im Alter von acht Jahren beziehungsweise acht Monaten in den Terrorstaat gebracht. Seit mehr als sieben Jahren stecken die Mädchen jetzt in dem staubigen Zeltlager in der Wüste fest. Das Lager liegt im faktisch autonomen Gebiet der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und wird zu großen Teilen von der amerikanischen Regierung finanziert.

Seit 2022 war es in Deutschland ruhig geworden um die Frage, was mit den in Syrien verbliebenen deutschen Dschihadisten und deren Frauen und Kindern geschehen soll. Doch seit dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad im Dezember haben die deutschen Sicherheitsbehörden das Thema wieder auf dem Schirm. „Zumindest die Arbeitsebene weiß um die Dringlichkeit“, sagt die deutsche Ex­tremismus-Expertin Claudia Dantschke vom Verein Grüner Vogel.

Als die Foltergefängnisse des Assad-Regimes geöffnet wurden, konnten einige IS-Kämpfer entkommen. Darunter sollen auch Deutsche gewesen sein. Die instabile Lage erhöhe die Gefahr, dass der IS weitere Kämpfer aus den Gefängnissen im Nordosten Syriens befreien könnte, sagt Dantschke. Die meisten sind im Kurdengebiet inhaftiert, weil kurdische Kämpfer im Verbund mit den Amerikanern 2019 den Terrorstaat militärisch besiegt haben. Etwa 9000 ausländische IS-Kämpfer aus 50 Ländern sind nach US-Angaben noch in syrischer Haft. Unter ihnen sollen zwei Dutzend deutsche Männer sein.

Sie seien ein „politisches Faustpfand“ für die international nicht anerkannte kurdische Autonomieregierung, sagt Dantschke. Inzwischen bemühen sich auch der neue syrische Machthaber Ahmed al-Scharaa und die mit ihm verbündete Türkei um die Kontrolle über die inhaftierten Männer und internierten Frauen. Dantschke sagt, es zeichne sich ein großes „Geschacher“ ab. Hinzu kommt die Sorge, dass die Kinder und Jugendlichen in den Gefangenenlagern zu einer neuen radikalisierten Generation heranwachsen.

Davor warnt das US-Militär und drängt die Herkunftsländer, sie zurückzuholen. Nicht zuletzt wächst die Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den Herkunftsländern, die mit ansehen, dass die Kinder ohne eigenes Verschulden und ohne jegliche Perspektive in den Lagern ihr Leben verbringen müssen. Die Vereinten Nationen sprechen von „massenhafter willkürlicher Internierung von Kindern“. Ihre Eltern haben in Syrien keine Aussicht auf einen Gerichtsprozess. „Er war sehr nett zu mir und meinen Kindern“

Zekija Kacar hat nach eigenen Angaben in Deutschland in einem Nagelstudio und vorher in der Medizintechnik gearbeitet. Nach einer Scheidung heiratete sie einen Bosnier, der sich später der Nusra-Front, einer salafistischen Terrorgruppe, anschloss. Er habe sie 2014 „mit Lügen“ ins syrische Raqqa gelockt, behauptet sie. Das könnte eine Schutzbehauptung sein, so wie vieles, was Kacar im Interview erzählt. Denn nach einer Rückkehr müsste sie in Deutschland damit rechnen, vor Gericht gestellt zu werden.

Ihr Mann sei bald darauf getötet worden, erzählt sie weiter. Sie sei vom IS erst in ein Frauenhaus gebracht und dann gezwungen worden, einen syrischen Kämpfer zu heiraten. Zu der Zeit war Raqqa eine Hochburg des IS. „Er war sehr nett zu mir und meinen Kindern“, sagt Kacar. Von ihm habe sie zwei weitere Kinder bekommen, bevor auch er getötet wurde. Sie habe zweimal versucht zu fliehen. Einmal sei sie der IS-Polizei in die Hände gefallen. Beim zweiten Mal hätten Schmuggler sie 2017 an die Kurden „verkauft“. Die hätten sie erst in das Lager Al-Hol und einige Monate später nach Al-Roj gebracht.

Kacar behauptet, dass sie sich von anderen im Lager fernhalte. „Es gibt Kinder hier, die unter dem Einfluss von ihren Müttern radikal sind. Ich will nicht, dass meine Kinder das mitbekommen.“ Viele der Mütter würden glauben, dass der IS zurückkomme und sie befreien werde. Sie würden außerdem die kurdischen Wächterinnen als Ungläubige beschimpfen.

Kacar sagt, sie sei schon tätlich angegriffen worden, weil sie sich schminke, ihr Gesicht nicht verhülle und auch mit Männern rede. Man solle sich das mal vorstellen, sinniert Kacar, wenn diese Frauen zurückgingen und in einem deutschen Rathaus verlangten, nur mit Frauen zu reden. Es gebe aber auch Andersdenkende im Lager. „Kundinnen“, die sich von ihr piercen ließen.

Zwei ihrer Töchter, neunzehn und elf, dürften nach Deutschland zurückkehren. Doch die Mutter ist dagegen. „Die brauchen doch jemanden, eine Mama, bei all den Sachen, die sie hier mitbekommen und die sie vorher im IS mitbekommen haben.“ Ihre Kinder würden manchmal Deutschland im Fernsehen sehen und dann nach der Oma fragen. Ihre Mutter sei Rentnerin, lebe in einem Dorf bei Stuttgart. Sie könne regelmäßig mit ihr telefonieren.

Jeden Monat schicke die Mutter 300 Euro. Der Vater ihrer ältesten Tochter lebt ebenfalls in Deutschland, hat aber den Kontakt abgebrochen. Ebenso ihr 18 Jahre alter Sohn, der bei der Bundeswehr ist. Er habe erst versprochen, ihr bei der Rückkehr zu helfen, sagt Kacar. Dann habe er seine Whatsapp-Nummer geändert und sich nicht mehr gemeldet. „90 Prozent der syrischen Frauen sind keine Extremistinnen“

In Al-Roj erklärt die Direktorin Hokmia Ibrahim, dass es in jedem Abschnitt des Lagers eine IS-Anführerin gebe. Sie würden dafür sorgen, dass die Kinder indoktriniert würden. Frauen würden eingeschüchtert, damit sie ihre Kinder nicht in die Schulen der Lagerverwaltung schicken. Diese gehen nur bis zur sechsten Klasse. Einen anerkannten Abschluss gibt es nicht. Kacar sagt, ihre Kinder würden dort zwar hingehen, aber nicht viel lernen. „Und was ich gar nicht mag: Die fotografieren die Kinder auch. Für was?“

Die Vereinten Nationen berichteten 2023, dass die kurdische Lagerverwaltung die Söhne ab dem zwölften Lebensjahr systematisch von ihren Müttern trennten. Sie würden in nächtlichen Razzien aus dem Lager geholt und in sogenannte Rehabilitationszentren gebracht. Direktorin Ibrahim begründet das damit, dass man verhindern wolle, dass die Jungen radikalisiert und zu Schläfern ausgebildet würden.

Zudem gebe es sexuelle Ausbeutung. Die Jungen würden zum Sex gezwungen, um Nachfahren für den IS zu zeugen. Die Mütter könnten ihre Söhne nicht davor beschützen. Im vergangenen Jahr seien zwei Kinder in Al-Roj geboren worden. Kacar bestätigt, dass es keine jungen Männer im Alter ihrer neunzehnjährigen Tochter gebe. „Die Liebe ist hier verboten“, sagt sie.

Im Vergleich zum sehr viel größeren Lager Al-Hol mit 39.000 Gefangenen wirkt Al-Roj geordneter. In Al-Hol ist der Einfluss des IS wohl noch stärker. Es gibt eine Religionspolizei, Scharia-Gerichte und Morde an vermeintlichen Verräterinnen. Der Ausländerabschnitt gilt als so gefährlich, dass die Milizionäre der SDF nur zu kurzen nächtlichen Razzien hineingehen, um gewaltsame Zusammenstöße zu vermeiden.

Unter den Syrerinnen im Lager sind aber viele, die sich nie freiwillig dem IS angeschlossen haben. Viele seien zwangsweise mit IS-Kämpfern verheiratet worden, sagt Abdul Hamid, der in Raqqa die Nichtregierungsorganisation Oxygen leitet. Er hat 480 syrische Familien nach der Entlassung aus Al-Hol begleitet. „90 Prozent dieser Frauen sind keine Extremistinnen“, sagt er. Das Hauptproblem dieser Frauen sei es, dass ihre Söhne ohne Anklage im Gefängnis säßen. Anders als im Fall der ausländischen IS-Familien gebe es für sie keine Rehabilitationszentren und kaum Kontaktmöglichkeiten zu ihren Müttern. „Das trägt eher zur Radikalisierung bei.“

Um die Inhaftierung ihrer Söhne zu verhindern, würden manche Familien sie vor dem zwölften Lebensjahr aus dem Lager und dann nach Europa schmuggeln lassen. Hamids Schilderungen bestätigen, was auch Frauen in Al-Hol der F.A.S. berichtet haben: Wer das nötige Geld und Kontakte hat, kann aus dem Lager ausbrechen. Claudia Dantschke vom Verein Grüner Vogel weiß von deutschen IS-Frauen, die das geschafft haben. Sie seien jetzt alle in Idlib, wo der selbst ernannte Präsident Ahmed al-Scharaa noch bis vor Kurzem mit seiner islamistischen HTS-Miliz herrschte. Diese Frauen wollen nicht nach Deutschland zurück. Fast alle Töchter suchten irgendwann die Hilfe ihrer Eltern

Die Bundesregierung habe im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern eine „Vorreiterrolle“ gespielt, sagt Dantschke. Ursprünglich habe Deutschland nur die Kinder zurückholen wollen, weil sie Opfer seien. Doch die kurdischen Bewacher hätten sich geweigert, Kinder ohne Einverständnis der Mütter herauszugeben. „Irgendwann hat Deutschland gesagt, die Kinder werden immer älter, das schadet ihnen, und hat sie dann mit den Müttern geholt.“

Dantschkes Verein war in den Prozess eingebunden, weil er zuvor schon die Eltern darin beraten hatte, wie sie deradikalisierend auf die ausgereisten Töchter einwirken können. „Wir haben ihnen Tipps gegeben, wie sie kommunizieren sollen, damit der Kontakt nicht abbricht.“ Die Eltern sollten ihren Töchtern möglichst keine Vorwürfe machen. Nach einiger Zeit, als die Desillusionierung über den IS einsetzte, wandten sich die Töchter auch wirklich fast alle hilfesuchend an ihre Eltern.

„Jeder Mensch hat ein Recht auf eine zweite Chance. Natürlich muss man seine Schuld eingestehen und die Verantwortung übernehmen“, meint Dantschke. Rund die Hälfte der Frauen seien nach der Rückkehr sofort inhaftiert worden, die Kinder seien zu den Großeltern gekommen. Andere Frauen seien später noch vor Gericht gestellt worden. Wieder normal leben: Krankenversicherung, Schule, Kita, Wohnung, Job

Zu den Anklagepunkten zählten Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Rekrutierung anderer etwa über Whatsapp, Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und gegen die Fürsorgepflicht für die eigenen Kinder. Viele wohnten in Häusern, aus denen der IS die Besitzer vertrieben hatte. Das ist ein Kriegsverbrechen. In einigen Fällen ging es um Beihilfe zur Sklaverei. Drei der 27 bereits nach Deutschland geholten Frauen seien weiterhin in Haft, sagt Dantschke.

Eine Gefährdung für Deutschland sieht sie in keinem Fall. „Nur eine ist noch uneinsichtig.“ Diese Frau sitzt derzeit eine hohe Haftstrafe ab. Ein anderer deutscher Verein übernahm die psychologische Betreuung der Kinder. „Ein Fall war ganz krass“, sagt Dantschke. Ein Junge habe von seinem Stiefvater ständig Videos gezeigt bekommen, in denen Menschen geköpft wurden. Aber das sei eine Ausnahme gewesen. Schon vor der Ausreise habe der Verein mit fast allen Frauen in Kontakt gestanden. „Sie dürfen zwar keine Handys haben, aber natürlich haben sie Handys“, sagt Dantschke.

Nach der Rückkehr gehe es vor allem um stabile Lebensumstände: Geburtsurkunden für die Kinder, Krankenversicherung, Schule, Kita, Wohnung, Job. Danach komme die Tataufarbeitung, die Frage, was sie motiviert hat. „Da ging es oft um ganz profane Sachen: Ersatzfamilie, Anerkennung, Orientierung. Um Islam ging es da nicht“, sagt Dantschke. Die IS-Propaganda habe den Frauen vermittelt, sie könnten an einem Großprojekt teilnehmen, die Mütter der ersten neuen Generation des Kalifats sein. Die Frauen zurückzuholen sei für Deutschland sicherer, „als wenn sie radikalisiert in Syrien herumlaufen, denn auch von dort kann man nach Deutschland einwirken“.

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[–] Jackhammer_Joe 28 points 3 days ago