this post was submitted on 24 Jun 2023
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Bis zu den Bildern aus Rostow vom Samstagmorgen, die Prigoschin mit Jewkurow und Alexejew zeigten, war der Aufstand freilich recht virtuell geblieben, wie eine neue Geschichte auf dem Pressedienst-Telegram-Kanal des Milizenführers zeigt. Dort erschienen am Freitagmorgen zunächst neue Einlassungen Prigoschins gegen Schojgu. Letzteren machte er für die Ende Februar 2022 begonnene große Invasion der Ukraine verantwortlich. Er folgte damit dem Muster, sich als Putins bester Kämpfer darzustellen und den „betrogenen“ Präsidenten zu entlasten. Doch bezeichnete Prigoschin Putins „Spezialoperation“ als „stümperhaft geplant“ und unterlief zugleich ein Kernnarrativ des Präsidenten, indem er sagte, die Ukraine und die NATO hätten nicht vorgehabt, Russland anzugreifen. „Der nächste Schritt wird unser sein“
Bald darauf verbreitete Prigoschin, dass er Anzeige gegen Schojgu und Gerassimow erstattet habe. Sie müssten sich wegen „Genozids am russischen Volk, Tötung Tausender friedlicher russischer Bürger und der Übergabe russischer Gebiete an den Feind“ verantworten. Er bezog sich offenbar auf zeitweise von Russland besetzte Gebiete, aus denen sich die Invasoren dann unter ukrainischem Druck zurückzogen, wie die von ihm dann am Samstagmorgen in Rostow erwähnten Städte Lyman und Isjum.
Am Freitagabend veröffentlichte Prigoschin dann eine ganze Serie wütender Audiobotschaften. Man sei bereit gewesen, dem Ministerium entgegenzukommen, die Waffen abzugeben und eine Lösung zu finden, „wie wir weiter das Land schützen sollen“, sagte Prigoschin. Das bezog sich offenbar auf Schojgus jüngste Anordnung an alle russischen „Freiwilligenverbände“ wie Wagner, sich bis zum 1. Juli dem Verteidigungsministerium zu unterstellen. „Aber dieses Dreckspack hat sich nicht beruhigt“, sondern habe Wagners Trainingslager mit Raketen angegriffen. „Eine enorme Anzahl von Kriegern, unserer Kampfkameraden, ist getötet worden. Wir werden entscheiden, wie wir auf diese Gräueltat antworten. Der nächste Schritt wird unser sein.“
Dazu wurde ein eineinviertel Minuten kurzes Video verbreitet, das Folgen eines angeblichen Angriffs auf ein Wagner-Lager zeigen soll. Es stammt von Prigoschins Leuten und ist laut dem exilrussischen Newsportal „Medusa“ wahrscheinlich eine Fälschung. So sieht man auf den Bildern keine Einschlagstrichter oder Geschossteile, zwei Männerstimmen nehmen sofort die Ukrainer aus der Verantwortung und schieben die Schuld den „Verbündeten“, der russischen Armee also, zu. Ein anscheinend abgerissenes menschliches Körperteil wirkt nicht frisch. Das Verteidigungsministerium wies Prigoschins Darstellung zurück und sprach von einer „informationellen Provokation“. „Viele Tausende Leben russischer Soldaten vernichtet“
In einer weiteren Audiobotschaft sagte Prigoschin dann, der „Kommandeursrat“ der Wagner-Miliz habe entschieden: „Das Böse, das die militärische Führung des Landes verursacht, muss gestoppt werden.“ Man werde die „Gerechtigkeit“ zurückbringen und diejenigen, die „viele Tausende Leben russischer Soldaten vernichtet haben“, bestrafen. Jeder Widerstand werde „unverzüglich vernichtet“. Das gelte für alle Kontrollpunkte und „jedwede Luftwaffe, die wir über unseren Köpfen sehen“. Prigoschin stellte klar, dass er sich nur gegen die Militärführung wende. „Die Präsidentenmacht, die Regierung, das Innenministerium, die Nationalgarde und andere Strukturen werden weiter in der üblichen Ordnung arbeiten. Wir befassen uns mit denen, die russische Soldaten vernichten, und kehren an die Front zurück. Die Gerechtigkeit in der Truppe wird wieder hergestellt, und danach die Gerechtigkeit in ganz Russland.“
Alsbald behauptete Prigoschin, Schojgu sei um 21 Uhr „feige aus Rostow geflohen“. Der Minister habe nicht erklären wollen, warum er Hubschrauber habe aufsteigen lassen, „um unsere Jungs zu vernichten“, und warum er Raketenschläge angeordnet habe, werde aber aufgehalten. Ziel des angeblichen Militärschlags gegen die Wagner-Miliz sei es gewesen, „ungehorsame Einheiten zu vernichten, die bereit sind, die Heimat zu schützen, aber nicht ihre Ärsche“, sagte Prigoschin über seine Gegner.
Der Milizenführer bezifferte die Zahl seiner Männer auf 25.000 – über wie viele er wirklich verfügt, ist unklar. „Die ganze Armee und das ganze Land“ seien seine „strategische Reserve“, sagte Prigoschin und rief alle dazu auf, sich ihm anzuschließen, „um diesem Unfug ein Ende zu machen“. Es handele sich „nicht um einen Militärputsch“, sagte Prigoschin bald darauf, sondern um einen „Marsch der Gerechtigkeit“. Man störe die Soldaten nicht, deren Mehrheit „uns glühend unterstützt“, erhalte Mitteilungen des Dankes: Endlich werde es jemand erreichen, dass den Soldaten Munition gegeben werde und sie nicht länger als Kanonenfutter geopfert würden. Gerade habe er, Prigoschin, erfahren, dass Schojgu befohlen habe, in einer Rostower Leichenhalle 2000 Leichen zu verstecken, „um die Verluste nicht zu zeigen“. „Jetzt gehen wir nach Rostow“
Prigoschin sagte, man habe die Grenzen überschritten, Grenzer und Wagner-Milizionäre hätten einander umarmt. „Jetzt gehen wir nach Rostow“, sagte Prigoschin. Ihnen würde nur Wehrpflichtige entgegengestellt, die gingen aber beiseite, „wir kämpfen nicht mit Kindern, wir töten Kinder nicht“. Nur Schojgu töte Kinder, „wenn er nicht ausgebildete Soldaten, unter ihnen Wehrpflichtige, in den Krieg wirft“. Man reiche jedem die Hand, sagte Prigoschin und rief dazu auf, das Angebot anzunehmen, da ansonsten Vernichtung drohe. „Wir gehen weiter, wir gehen bis zum Ende.“
Belegfrei behauptete Prigoschin gegen halb drei Ortszeit, Gerassimow habe angeordnet, aus Kampfflugzeugen das Feuer auf Kolonnen ziviler Fahrzeuge zu eröffnen“, doch hätten sich die Piloten geweigert, die „verbrecherischen Befehle“ zu befolgen. Knapp eine Stunde später sagte Prigoschin, offenbar mit Blick auf die Mitteilung des FSB vom „Stoß in den Rücken“ der Armee, man hindere nur „Verbrecher, die rund 100.000 russische Soldaten vernichtet haben, daran, ihren Arsch zu retten: Gerassimow und Schojgu.“
Später behauptete Prigoschin, Wagner habe einen Kampfhubschrauber abgeschossen und eine Barriere auf der Autobahn M4 vernichtet. Die Straße verbindet das südwestrussische Gebiet Krasnodar, wo Wagner sein Hauptlager hat, über Rostow mit der Hauptstadt. „Wir sind alle bereit, zu sterben, alle 25.000. Und danach noch 25.000. Denn wir sterben für die Heimat, das russische Volk.“ Um sieben Uhr Ortszeit behauptete Prigoschin, gekämpft werde dort, wo die Militärführung den Soldaten falsche Informationen gebe. Viele Soldaten, Polizisten, Nationalgardisten liefen über, schon „60, 70“ seien zu Wagner gestoßen, „obwohl wir noch keinen großen Weg zurückgelegt haben. Ich glaube, die halbe Armee ist bereit, mit uns zu gehen.“„Einen Bürgerkrieg im Land zu entfesseln, das fehlt uns gerade noch“
Bilder aus Rostow zeigen Bewaffnete und Panzer im Stadtzentrum. Dabei war teils unklar, ob es sich um reguläre Soldaten oder um Prigoschins Leute handelte. Der Rostower Gouverneur empfahl den Bewohnern des Gebiets, in ihren Häusern zu bleiben. Auch in Moskau wurden am späten Freitagabend gepanzerte Fahrzeuge im Stadtzentrum gefilmt. Am Samstagmorgen verkündeten der Bürgermeister der Hauptstadt und der Gouverneur des Moskauer Gebiets „antiterroristische Maßnahmen“ wie zusätzliche Straßenkontrollen. Aus Sankt Petersburg wurde eine Razzia im dortigen Wagner-Hauptquartier gemeldet. Die Regierung des westrussischen Gebiets Woronesch, das an das Rostower Gebiet grenzt, berichtete über eine Kolonne von Militärtechnik, die sich auf der M4 bewege, und rief dazu auf, die Straße nicht zu nutzen. Die Lage sei „unter Kontrolle“.
Prigoschins Söldner sind seit Jahren im Donbass und an anderen Schauplätzen wie Syrien aktiv. Als die Lage an den ukrainischen Fronten im vergangenen Jahr schwierig wurde, witterte Prigoschin offenkundig eine Chance. Vom vergangenen Sommer rekrutierte in russischen Straflagern Tausende Häftlinge, die für Wagner an die Front zogen. Das wäre ohne Zutun des Militärs und des FSB nicht möglich gewesen.
Im Oktober triumphierte Prigoschin, als ein ihm bekannter General, Sergej Surowikin, das Kommando über die Ukraineinvasion erhielt. Doch mit anderen Teilen des Apparats gab es Reibereien, die schließlich dazu führten, dass Prigoschin die Rekrutierung in den Straflagern untersagt worden sein soll. Erster sichtbarer Erfolg wurde für den Milizenführer die Einnahme des zerstörten Ortes Soledar im Januar, den auch das Verteidigungsministerium sowie das Staatsfernsehen dann Wagner zuschrieben. Im Kampf um das benachbarte Bachmut hat Prigoschin nach eigenen Angaben 20.000 Mann verloren, andere vermuten noch mehr Tote. Surowikin musste das Kommando über die Invasionstruppen schon im Januar an den Generalstabschef abgeben, ist seither einer von drei Stellvertretern Gerassimows und soll unter anderem die Zusammenarbeit mit Wagner koordinieren.
In der Nacht auf Samstag appellierte Surowikin an die Wagner-Milizionäre, „anzuhalten“ und nicht „dem Gegner in die Hände zu spielen in dieser für das Land schweren Zeit“. Es sei „noch nicht zu spät, sich dem Willen und Befehl des vom ganzen Volk gewählten Präsidenten der Russischen Föderation unterzuordnen, die Kolonnen anzuhalten und alle Probleme auf friedlichem Wege zu lösen“. Auch GRU-Mann Alexejew meldete sich zu Wort, sprach wie der FSB von einem „Stoß in den Rücken“ und einem „Staatsstreich“. „Einen Bürgerkrieg im Land zu entfesseln, das fehlt uns gerade noch“, sagte Alexejew. Wenige Stunden später erschien derselbe Mann schon als Prigoschins Gesprächspartner in Rostow, bewacht von Wagner-Kämpfern.